Ich bin Niederrhein (16) Von Michael Elsing

Wissen Sie eigentlich, was früher meine größte Befürchtung gewesen ist? Dass ich später, wenn ich einmal erwachsen bin, nur noch von früher rede. Und was soll ich Ihnen sagen: es ist passiert! Ich schwelge zwar nicht ausschließlich in der Vergangenheit. Aber das ein oder andere Mal ertappe ich mich schon dabei, wie mein Blick zurückgeht und ­ noch schlimmer ­ ich auch darüber erzähle. Ganz nach dem Motto: so wie es früher war, so wird‘s nie wieder.
Damals, im Kindesalter, hat mich stets der Gedanke umgetrieben, ich könnte später genauso werden wie die Erwachsenen. Ich trage womöglich Anzüge, höre Blasmusik, und esse viel Gemüse. Und vielleicht sage ich meinen Kindern auch, dass sie das machen müssen, was ich ihnen sage, so lange sie die Füße unter meinen Tisch stellen. Herausgekommen ist dabei, dass ich heute tatsächlich viel Gemüse esse.
Doch zurück zur Vergangenheit: viele Rituale, die damals eine Selbstverständlichkeit waren, sind heute nahezu komplett von der Bildfläche verschwunden. Wo ist beispielsweise der klassische Nutzgarten geblieben? Wer gräbt heute noch seinen Garten um, schmeißt Mist in die Furchen, pflanzt Kartoffeln und zahlreiche Gemüsearten an und macht sie später aus, wie es am Niederrhein so schön heißt? Wer macht noch sein eigenes Obst ein und wer wurstet noch in seinem Keller? Wer holt sich noch Milch beim Bauern ab und wer backt sein eigenes Brot?
Aber nicht nur in Sachen Selbstversorgung hat sich unsere Welt verändert. Unvorstellbar, dass wir früher ohne Auto, Telefon, Fernseher, Computer oder Jeans-Hose ausgekommen sind. Doch wo neue Gebrauchsgegenstände Einzug in unser Leben gehalten haben, sind andere wiederum von der Bildfläche verschwunden. Ganz weg sind zum Beispiel die D-Mark, der Schwarz-Weiß-Fernseher, die Pocket-Kamera oder die Wählscheibe beim Telefon. Nur noch selten zu finden sind VW-Käfer, Koffer ohne Rollen, gestopfte Socken, gebügelte Taschentücher, Jugendliche, deren Hosen nicht in den Kniekehlen hängen, Plattenspieler, echte Kerzen am Weihnachtsbaum, eine Sportsendung ohne Gewinnspiel, Menschen, die Zeit haben und neuerdings auch schwarze Fußballschuhe.
Und während ich Unterhaltungen mit Familie, Freunden oder Bekannten immer häufiger mit dem Satz „Weißt du noch...” beginne, sitzt mir die nächste Generation bereits kopfschüttelnd gegenüber, lächelt in sich hinein und denkt sich seinen Teil. Doch ich bin davon überzeugt, dass dieser Nachwuchs in 20 Jahren ebenfalls Gemüse essen wird. Das ist nichts Besonderes, werden Sie sagen. Genau ­ das ist das Leben.

RP vom 07.08.2009